Meine Kindheit in der Kriegszeit

Meine Eltern bezogen im Dezember 1939 das von ihnen in der Kernsiedlung an der Apotheker-Gelb-Straße erbaute Einfamilienhaus. Diese Siedlung war damals weit außerhalb der Stadt. Sie bestand aus den Häusern an der äußeren Stadelbergerstraße, ab der jetzigen Karl-Robiczek-Straße, bis an den Albert-Schweitzer-Ring. Nach Norden verläuft heute noch  die Dirnaglstraße bis zur äußeren Feldstraße (heute:  Plonnerstraße). Sie begann an der jetzigen Friedrich-Ebert-Straße und reichte bis zum heute noch letzten Haus auf der linken Seite. Zur Apotheker-Gelb-Straße führte die Zufahrt über ein Privatgrundstück von der äußeren Feldstraße her. Die Apotheker-Gelb-Straße begann an der Friedrich-Ebert-Straße und endete wie heute noch. An ihrer Nordseite standen nur unser Haus und das östlich anschließende Nachbarhaus. Mit dem Auto kam man zu uns nur über die Feldstraße, die rechts vom Feldkreuz am Beginn der Werfstraße  abzweigte und schräg über die Felder zur äußeren Feldstraße führte. Für Fußgänger gab es eine kürzere Verbindung zur Stadt  über einen Weg, der von der äußeren Stadelbergerstraße (links vom heutigen Trafohaus der Stadtwerke) abzweigte und an der Dachauer Straße endete.

In der Kernsiedlung wohnten ausschließlich Arbeiterfamilien, da die fehlende Wasserleitung den Wohnkomfort erheblich minderte. Das benötigte Wasser mussten wir mit handbetriebenen Kolbenpumpen aus etwa 12 Metern Tiefe in die Blecheimer heraufpumpen – Sommer im Garten, Winter im Keller. Fließendes Wasser gab es erst ab 1949.

6 Monate nach dem Einzug, am zweiten Tag nach Beginn des „Westfeldzuges“ fiel mein Vater beim Überfall auf Belgien. Dadurch wurde mir schon als Kind bewusst was Krieg bedeutet, zumal in den folgenden 4 Jahren noch weitere Männer aus der Verwandtschaft auch ihr Leben lassen mussten. In der Schule, die ich ab September 1941 besuchte und auch in den Familien wurde der Frontverlauf  interessiert verfolgt und auf einer Landkarte mit farbigen Kordeln markiert. Ab Beginn des Rückzuges sank das Interesse merklich. Doch noch immer waren wir von den Kriegsereignissen, abgesehen von den Todesnachrichten,  nicht direkt berührt. Das geschah erst mit den einsetzenden Bombenangriffen auf München. Als erstes kamen die Einquartierungen ausgebombter Münchner. Für diese Familien musste meine Mutter das Kinderzimmer abgeben und die alte Frau im ersten Stock ihr Schlafzimmer. Bei Fliegerangriffen amüsierten wir uns immer über die einquartierten Leute, die sich aus Mutters Küchenschrank einen Kochtopf holten, auf den Kopf setzten und in den Keller rannten, während wir auf die Straße gingen und den alliierten Bombern zusahen, wie sie München anflogen. Nach Osten hatten wir ja freie Sicht. Das änderte sich erst am Nachmittag des 9. April 1945. Es war Fliegeralarm, den wir wie üblich nicht beachteten. Ich spielte im Garten und meine Mutter arbeitete in der Nähe der „hinteren“ Haustüre, die in den Garten führte. Wir hörten das Motorengeräusch der anfliegenden Bomber, dachten aber sie würden wie üblich nach München weiterfliegen. Plötzlich schrie meine Mutter. „Bub komm schnell, die werfen Bomben“. Ich rannte ins Haus und wir gingen in den Keller. Nach dieser Erfahrung suchten auch wir bei Fliegerangriffen den Keller auf.

In der Schule lernten wir die Ausrüstung der deutschen Armee, die Schlagkraft ihrer Waffen und die Tapferkeit des deutschen Soldaten: „Der fürchtet Gott, aber sonst nichts auf der Welt“. Gegen Ende April war aber den Erwachsenen schon klar, dass die Front immer näher rückte. Bald hörten wir den Donner von Artilleriegeschützen. Offiziell hieß es, es sei nur Übungsschießen der deutschen Wehrmacht. Das aber glaubte keiner mehr. Eines Tages spielten wir auf einer Wiese am Rand der Siedlung Fußball. Plötzlich sahen wir von Nordwesten her deutsche Soldaten mit umgehängtem Gewehr und Munitionskisten in den Händen in Richtung Emmeringer Hölzl rennen. Wir erstarrten: „Ein deutscher Soldat flieht“. Bald darauf drangen amerikanische Kampfverbände von Westen her in die Stadt ein. Davon bekamen wir Kinder der Kernsiedlung nichts mit. Da es keine Schule mehr gab, trollten wir Kinder den ganzen Tag durch die Siedlung und trieben wohl allerlei Unsinn. Plötzlich hörten wir das Rasseln von Panzerketten. Neugierig, wie Kinder nun einmal sind, gingen wir dem Geräusch nach und sahen an der äußeren Stadelbergerstraße, beim jetzigen Trafohaus, einen amerikanischen Panzer. Vorsichtig näherten wir uns diesem. Plötzlich ging der Deckel auf und ein dunkelhäutiger Soldat kroch aus dem Panzer. Dass es solche Menschen gab, wusste ich als Ministrant, denn in unserer Sakristei stand ein hölzernes Opferkästchen mit einem „Nickneger“ darauf. Wenn man, statt ein Geldstück einzuwerfen, mit einem flachen Gegenstand in den Einwurf-Schlitz stocherte, nickte der Mann. Nun aber stand ein leibhaftiger Schwarzer vor uns. Er lachte und zeigte dadurch seine strahlend weißen Zähne in seinem dunklen Gesicht. Dann zog er einen Gegenstand aus der Tasche, entnahm aus diesem einen schmalen Streifen, grün umwickelt und am Ende Stanniol. Diesen streckte er uns hin. Der Mutigste sprang einige Schritte vor, entriss ihm den Streifen und kehrte zu uns zurück. Dann zog der Soldat einen zweiten Streifen heraus, wickelte ihn aus, steckte ihn in den Mund und kaute daran. Diesem Beispiel folgte unser Freund und bemerkte: „Das ist ja süß!“. Der Soldat rief „Chewing-Gum“  - mein erstes englisches Wort.






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