Die Lachnerin – Eine Fürstenfeld-Triologie
Bis in die 70er Jahre war Fürstenfeld eigentlich eine in sich abgeschlossene „Gemeinde“ mit allen denkbaren Handwerkern und Betrieben, einer eigenen Strom- und Wasserversorgung, einem eigenen „Bürgermeister“ und etwa 250 Bewohnern. Dort als Kind aufzuwachsen war ein Geschenk und es ist die Erinnerung an diese Zeit, die die Fürstenfelder bis heute verbindet.
Fürstenfeld war voll von „Originalen“ die bis heute unvergessen sind, wie z.B. der Müller, der wegen seiner Kraft sogar Olympia-Kandidat war oder der Schmied, der seiner Frau mittags durch rhythmische Hammerschläge auf den Ambos ankündigte, dass er jetzt zum Essen kommt. Sie alle wären eine Anekdote wert!
Ein echtes Original war ganz bestimmt auch die Lachnerin. Sie war eine gestandene ehemalige Gutsarbeiterin von kräftiger Statur, immer mit Kopftuch und geblümter Kittelschürze bekleidet. Sie hatte eine sehr direkte Art auf Leute zuzugehen und pflegte sich dabei recht deftig auszudrücken. Wen sie nicht mochte, den ließ sie das auch ganz deutlich spüren. Aus irgendeinem Grund hatte ich bei ihr einen Stein im Brett und ich habe ihr gerne zugehört, wenn sie abends auf dem Eckstein an unserem Haus Fürstenfeld 4 (heute 8) saß und über Gott und die Welt schimpfte.
Episode 1: Die „Todesspritze“
Die Lachnerin war schwer zuckerkrank und brauchte jeden Tag eine Insulinspritze, die ihr meine Mutter, die früher Krankenschwester war, verabreichte. Wenn sie zur Zuckerkontrolle ging, bekam die Lachnerin ihre Spritze beim Doktor. Dann hat sie immer unten geklingelt und durchs Treppenhaus hinauf gerufen (wir wohnten im 2.Stock ): „I geh heit zum Blutzucker!“
So war es auch an jenem Tag. Ich war allein zu Hause – plötzlich stand die Lachnerin schwer atmend und leichenblass vor unserer Wohnungstür: „I brauch spritzn – da Dokta is im Urlaub!“. Ich sagte ihr, dass meine Mutter zum Einkaufen gegangen ist. „Na mußt as Du macha!“ keuchte die Lachnerin und zog mich mit Gewalt ins Badezimmer, wo das Impfbesteck war. Ich beteuerte, dass ich das nicht kann, aber alles Weigern half nichts, sie hielt mich fest wie ein Schraubstock und deutete auf die Spritze. In Fernsehkrimis hatte ich gesehen, wie man eine Spritze aufzieht. Das gelang mir auch ganz gut. Dann deutete die Lachnerin auf ihren Arm und ich setzte zitternd die Spritze an. Ich hatte das Gefühl, dass ihre Haut die Beschaffenheit wie bei einem Elefanten hatte und stach zu. Die Lachnerin zischte ein wenig, verhielt sich aber sonst ganz still. Während ich die Spritze betätigte, färbte sich plötzlich die Haut um die Einstichstelle ganz weiß und Flüssigkeit trat aus. Mein Herz klopfte wie verrückt und ich brach die Prozedur ab. „Des glangt scho“ meinte die Lachnerin und verließ mich. Ihren Heimweg verfolgte ich vom Fenster aus und war sicher, dass sie jeden Moment tot umfallen würde.
Als meine Mutter heim kam, erzählte ich ihr, was geschehen war. Sie reagierte völlig gelassen, ging später zur Lachnerin rüber und hat sie nachgespritzt. Ein Felsbrocken ist mir von der Seele gefallen!
Episode 2: Das Königlich Bayerische Amtsgericht
Der Lachnerin ihr Mann ist nachts mit dem Radl unterwegs gewesen, von einem Autofahrer angefahren und tödlich verletzt worden. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung im Münchner Justizpalast, bei der die Lachnerin als Nebenklägerin auftrat. Da sie sich in München und bei Gericht nicht auskannte, hatte sie mich gebeten, mit ihr zur Verhandlung zu fahren. Der Unfallverursacher wurde vom bekanntesten Strafverteidiger Münchens vertreten, die Lachnerin von einem Brucker Anwalt.
Der Richter befragte die Lachnerin:“ Warum haben Sie Ihren Sohn nicht zur Verhandlung mitgebracht?“ Sie zeigte auf den Angeklagten: „Mei Bua hätt eam so hergfotzt, daß er nimmer steh kannt!“ „Haben Sie das Fahrrad Ihres Mannes untersucht?“ „Des brauch i net untersuacha, des hat ma scho gseng, daß‘s hi is!“ (Gelächter im Saal, leichte Verwirrung beim Gericht).
Mittags hat mich die Lachnerin zum Mathäser eingeladen. Beim Zahlen hat sie den Geldbeutel unter ihren Röcken hervorgeholt, was der Ober etwas pikiert beobachtete. Den Geldschein nahm er mit spitzen Fingern entgegen.
Der Auftritt der Lachnerin hatte sich anscheinend herumgesprochen, denn am nächsten Tag war der Gerichtssaal voll besetzt. In der Pause fiel der Lachnerin ein eleganter älterer Herr auf, der etwas abseits stand. Mißtrauisch ging sie auf ihn zu – sie betrachtete ja alle Angehörigen der Gegenpartei als ihre persönlichen Feinde - und fragte ihn, wie sie es in der Verhandlung gelernt hatte, in gepflegten Hochdeutsch: „Sind Sie mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert?“ Kleinlaut kam sie zu mir zurück: „Er is da Vater vom Staatsanwalt!“
Es war fast zu erwarten: der Staranwalt konnte das Gericht trotz einer gegenteiligen Zeugenaussage zu einem Urteil bringen, das die Gegenpartei laut jubeln ließ und die Lachnerin um die erhoffte Entschädigung brachte.
Episode 3: Das Weihnachtsgeschenk
Der Heilige Abend wurde in unserer Familie immer besonders feierlich begangen. Mein Vater war pünktlich vom Stammtisch im Klosterstüberl nach Hause gekommen und alle hatten sich besonders festlich „angelegt“. Der Weihnachtsbaum war eine ganz gewöhnliche Fichte vom Wittelsbacher Ausgleichsfonds, die wunderbar duftete und schon nach wenigen Tagen zu nadeln anfing.
Wir hatten die erste Strophe von „Oh Du fröhliche“ mehr schlecht als recht absolviert und wollten gerade mit der Bescherung anfangen, als es an der Türe klingelte. Ich öffnete und vor mir stand die Lachnerin. Wortlos überreichte sie mir ein Stück Gselchtes, das in fettigen Zeitungspapier eingewickelt war. Ich war ganz gerührt: „Vielen Dank, Lachnerin. Ich wünsch Dir ein gesegnetes Weihnachtsfest!“ Da holte sie aus und gab mir eine gewaltige Watschn. Ich stammelte: “Ja – warum?“ „Des is bei uns dahoam so da Brauch!“ antwortete sie und ging. Sie hatte mich so „dant“ getroffen, daß ich noch lange einen Pfeifton im Ohr hatte. Es war das einzige Weihnachtsfest, an dem ich wirklich die Engel habe singen hören. (Das Gselchte war übrigens echt gut!)
Foto: J. Klein
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