Onkel Rudis Finger

Meine Sommerferien – scheinbar endlos lange sechs  Wochen mit immer schönem Wetter, erfüllt mit dem Duft der reifen Getreidefelder und dem unverwechselbaren Geruch der Amper. 

In der Nachkriegszeit gab es natürlich noch keine Klassenfahrten nach Kanada oder Familienurlaub in Italien. Meine erste Ferienreise: Als Sechsjähriger bin ich alleine mit dem Radl auf der teilweise ungeteerten B2 nach Nannhofen gefahren, wo ich unvergessliche Wochen auf einem kleinen Bauernhof verbringen durfte. Am Pucher Berg, der damals viel steiler war als heute, musste ich absteigen,  Gangschaltungen gab es ja noch nicht. Meine Mutter  hatte mir ein paar Zehnerl mitgegeben, damit ich mir im Wirtshaus bei der Ziegelei Neumeier eine Limo kaufen  konnte. In  Nannhofen habe ich auf den abgeernteten Getreidefeldern mit Leidenschaft beim Ährenlesen mitgemacht. Immerhin habe ich für meine Ausbeute ein ganzes Kilo Mehl bekommen, das ich stolz zu Hause abliefern konnte. 

Meistens zur Sommerzeit kam Onkel Rudi aus Frankfurt zu Besuch. Er quartierte sich im „Gasthaus zum Bad“ ein und hatte immer eine Korbflasche mit Äppelwoi dabei, die erst zwei Tage ruhig stehen musste, damit sich - wie er sagte - die Äppelwoigeister beruhigen konnten. Onkel Rudi war überhaupt allen leiblichen Genüssen sehr zugetan, was man an seiner stattlichen Figur erkennen konnte. Die Tage verbrachte er gerne im einmalig schönen Familienbad und abends erholte er sich im Klosterstüberl am Stammtisch meines Vaters. Ab einen gewissen Alkoholpegel wurde Onkel Rudi schnell äußerst streitbar. Da er keinen Widerspruch duldete, kam es häufig zu lauten und turbulenten Debatten, die ich als Kiebitz mit Leidenschaft verfolgte. 

An seiner linken Hand fehlte dem Onkel Rudi der Ringfinger. Als ich ihn einmal  fragte, wo er denn den Finger verloren hat, erzählte er mir folgende Geschichte: 

„Du weißt ja, ich war im Krieg als Obermaat bei der Kriegsmarine. Als wir einmal mit unserem Zerstörer weit draußen auf dem Ozean waren, sind plötzlich alle Maschinen und die Funkanlage ausgefallen. So trieben wir Tag um Tag manövrierunfähig umher. Bald waren alle Essensvorräte zu Ende und wir sahen uns schon einen grausamen Hungertod sterben. Da hatte der Smut die rettende Idee: Wenn jeder einen Finger opfern würde, könnte er daraus eine kräftige Fleischsuppe kochen. Alle an Bord, vom Matrosen bis zum Kommandanten, opferten einen Finger und so konnten wir überleben.“ 

Mich hat als kleiner Junge diese Geschichte tief beeindruckt. So viel Kameradschaft und Gemeinschaftssinn! Mir war klar, dass ich auch zur See fahren wollte, wenn ich einmal groß bin. Beschäftigt hat mich noch lange die Frage, ob jeder seinen eigenen Finger zum abknabbern bekommen hat. Onkel Rudi hat sie mir nie beantwortet.

Nach dem Abitur hatte ich dann die Möglichkeit, meinen Grundwehrdienst bei der  Bundesmarine abzuleisten. So ist mein Wunsch von damals in Erfüllung gegangen.  Da die Verpflegung an Bord unserer Marineschiffe bekanntermaßen sehr gut ist, bin ich im Besitz aller zehn Finger geblieben. 






zurück zur Übersicht