Reminiszenzen an die 50er und 60er Jahre in Fürstenfeldbruck
In unserer momentanen, vor allem weltpolitisch gesehenen unsteten Zeit, kommen mir, kurz nach dem 2. WK Geborenen, einige nostalgisch anmutende Begebenheiten aus meiner Kindheit hoch. Dem weithin bekannten Phänomen der im Alter zunehmenden Rückblenden und dem sukzessiven Eintauchen in die Vergangenheit sind folgende Erinnerungen aus der Zeit von 1952 bis 1960 geschuldet.
Anfang der 1950er Jahre fuhren noch wenige Autos durch Bruck. Mit meinem jüngeren Bruder saß ich hin und wieder auf dem Randstein an der Ecke Kapuziner/Schöngeisinger-Straße und wettete mit ihm auf das kommende Auto, wobei wir eine bestimmte PKW-Marke ankündigten. Im Abstand von einer durchschnittlichen Wartezeit von etwa einer Minute in stadtein- und auswärts fahrenden Richtungen fuhren sie dann an uns vorbei. Wir schärften damit unseren Sinn für Autos und deren Marken. Es fuhren noch wenige Luxusautos durch die Stadt, wie etwa Mercedes oder Opel Kapitän. Meist waren es die Urahnen von VW (Käfer), Fiat (500), Ford (Taunus), Opel (Olympia Rekord), Citroen (2 CV-„Ente“) oder gar der sogenannte Leukoplastbomber „Lloyd“.
Um die Ecke befand sich der Gasthof Landsberger Hof, dem ein Wirt mit dem für uns spaßigen Vornamen Isidor vorstand. Wir Buben bekamen von unserem Vater, wenn er von der Arbeit heimkam, hin und wieder den Auftrag: „Holt mir mal ne Flasche Bier!“ Eine inzwischen durch Altkanzler Schröder bekanntgewordene Weisung, die in diesen burlesken Spruch mündet. Mit einer leeren Flasche bewaffnet läutete ich neben der herunter gelassenen Luke, die sich nur von drinnen öffnen ließ, an einer Klingel. Das Betreten des Lokals war für einen Flaschenkauf anscheinend nicht vorgesehen bzw. erlaubt. Der Wirt schob die hölzerne Lade nach oben, bückte sich nach unten, dann fragte Isidor nach meinem Wunsch. Dies war eine damals häufig anzutreffende Einrichtung in vielen Gastwirtschaften, die wohl im Hinblick heutiger Getränkemärkte obsolet ist.
Liebend gerne erinnere ich mich an den Garten unseres Zuhauses in der Kapuzinerstraße. Am rückwärtigen Ende des rechteckigen Areals wuchsen viele Johannis-, Brombeer- und Stachelbeersträucher, von denen wir uns im Spätsommer „beerig“ verköstigten. Inmitten des einfachen, jedoch romantischen Gartens war in einem Flachbau eine Waschküche untergebracht, worin unser Vater eines Tages in einer großen, mit Wasser gefüllten Wanne einen lebenden Waller zu unser aller Erstaunen eingesetzt hat. Unser Vater war Mitglied eines Münchner Fischereivereins und konnte an einigen bayrischen Gewässern seinem Hobby nachgehen. Auf dem Sozius seines DKW-Motorrads begleitete ich ihn nach Grafrath (Amper), Oberschleißheim (Schwebelbach), Wolfratshausen (Loisach/Isarkanal) und Prittriching (Lech). Aus welchem Fluß der etwa gut einen Meter lange Raubfisch stammte, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, desgleichen, wie mein Vater ihn nach Hause transportiert hat. Ein riesiger Wasserbeutel auf dem Krad? Oder über einen Anglerspezi, mittels dessen Auto. Nach unserem Verzehr des Fisches befestigte er das Gebiss als Trophäe auf seiner Fischerkappe. Beim jährlichen Preisfischen (u.a. im Wirtshaus „Zum Dampfschiff“ in Grafrath) gelang ihm des Öfteren ein Platz unter den Besten.
Eine fast tägliche Aufgabe für uns Buben war der Gang zum kleinen Milchladen an der Schöngeisinger-Straße. In die von daheim mitgebrachte matt-silberschimmernde Blechkanne pumpte Frau Ebner einen oder zwei Liter frische Milch, in der selbigen Weise, wie wir Gießwasser aus unserem Gartenbrunnen holten.
Hin und wieder begegnete mir auf diesem Weg der Liliputaner Richard Krüger, der in der Schlachthofgegend wohnte. Aufpassen musste man als Dreikäsehoch, dass unsere auf Augenhöhe gerichteten Blicke in das Gesicht des Schauspielers nicht in abschätziger und herabwürdigender Art ausfielen. Solches Benehmen hatte schon mal zu wütenden theatralischen und schimpfenden Reaktionen des Kleinwüchsigen geführt. Im Kino der Amperlichtspiele sahen wir ihn übrigens später einmal in einer Verfilmung des Märchens Zwerg Nase agieren.
An ein bei uns im Haus wohnendes Mädchen denke ich noch manchmal, das im obersten Geschoß mit ihrem großen Bruder und Mutter wohnte. Marianne, die zwei Jahre älter als ich war, spielte mit uns ein Erdkunde fördernde Spiel, Stadt, Land, Fluß. Über deren Mutter, die am Fliegerhorst bei einem hohen Offizier der US-Besatzer den Haushalt führte, hatten wir zu Kaugummi und anderen süßen Dingen aus den USA Zugang. (Leider verstarb Marianne in viel zu jungen Jahren; sie wurde, glaube ich, knapp 50 Jahre alt.)
Dunkel erinnere ich mich an eine im ersten Stock wohnende ältere Dame (Frau Glas), der -soweit ich weiß- das Haus gehört hat. Ihren Erzählungen zufolge hatte sie in der Nazizeit ihren Mann, ein Jude, in ihrer Wohnung versteckt gehalten. Dieser hielt sich in einem eigens doppel-wandig und übertapezierten geheimen Raum bei Kontrollen auf. Für uns Buben waren das damals noch irreal klingende Abenteuergeschichten.
Ein weiterer Ort für Besuche in der Nachbarschaft war das heutige Gebäude einer sozialen Einrichtung, das auf der gleichen Straßenseite ein paar Häuser weiter, kurz vor der Ecke Ludwigstraße steht. Damals betrieb die Mutter meines Schulfreundes Udo in diesem Haus und dem kleineren Bau daneben eine Wäscherei/Mangelei. In den Schulferien oder an Wochenenden durften wir zum Überbringen der fertigen Wäsche im Caravan der Mutter von Udo mitfahren. Einmal ging die Fahrt bis nach Grünwald bei München. In einem ähnlich einer Pension wirkenden Gebäude wurde uns ein in Leder gefasster, mächtiger Sessel gezeigt: Ich setzte mich ehrfurchtsvoll auf den Sitzplatz des großen Schauspielers Gert Fröbe, der nach seinen Ausflügen von anderen europäischen Drehorten stets wieder hier zurückkam. Auch die Schauspielerin Heidelinde Weis wohnte in diesem Haus, was uns Buben ebenfalls beeindruckte.
Beim Thema Prominente fallen mir die Begegnungen mit dem Schauspieler und Entertainer Hans-Joachim Kulenkampff ein. Meine Eltern hatten Anfang der 1960er Jahre einen kleinen Nebenjob im Feinkostgeschäft Wallner an der Brucker Hauptstraße, das sich im jetzigen Nebengebäude des Modehauses Kohl befand. Meist gegen Abend, also nach der Öffnungszeit, machte das Ehepaar Kulenkampff das in einer Grafrather Villa wohnte, seine Einkäufe in diesem Laden; dieser war weit und breit der einzige in der Art, der lukullische Spezialitäten feilbot. „Kuli“ war schon Anfang der 60er Jahre einer der beliebtesten Unterhalter im Deutschen Fernsehen. Ihn hatte ich dann plötzlich eines Tages in natura vor mir, als ich meine Mutter einmal beim „Wallner“ aufsuchte. Die Begegnung hinterließ bei mir den Eindruck einer stattlichen und imponierenden Erscheinung des TV-Unterhalters.
Nach 1955, gab es bei uns in punkto Wohnung eine Zäsur. Wir zogen samt unserem neuen weiblichen Familienmitglied -der Nachzögling kam 1955 noch in der Kapuzinerstraße mit Hilfe einer Hebamme zur Welt- in eine Wohnung an der Kronprinz-Rupprecht-Straße. Die heutigen Häuser auf der nördlichen Seite der Straße standen damals noch nicht. Wir hatten von unseren Fenstern freien Blick bis nach Neulindach. Die Umgehungsstraße B471 war also noch nicht gebaut. Im Eisstadion an der Ecke zur Maisacher-Straße erlebten wir damals spannende Eishockey-Spiele. Wenige Jahre später, als ein dem Staßenbauprojekt im Weg stehendes Wohnhaus und das Eisstadion abgerissen wurden, entstand die heutige Umgehungsstraße in Tiefbauweise.
In meiner Volksschulklasse befand sich übrigens ein Mitschüler, der bei den Olympischen Winterspielen 1972 in Sapporo im Vierbob die Bronzemedaille für Deutschland gewann: Walter Steinbauer, der Sohn eines Melkers in Fürstenfeld, war Anschieber im Bob und hatte wohl die kräftige Konstitution einer offenbar gesunden Verpflegung zu verdanken. Warum er früh verstarb, ist mir unbekannt. Walter wurde nur 48 Jahre alt.
Unsere Kindheit setzten wir im Alter von neun und zehn Jahren dort fort, wo die Angehörigen der US-Wehrmacht wohnten. Ein bis zwei Jahre waren sie unsere Nachbarn in den von uns östlich gelegenen Häusern. Diese wurden später teilweise durch Mehrfamilienhäuser für Bundeswehrangehörige ersetzt. Auf dem Spielplatz, direkt hinter unserer Wohnung, hatte die Stadt ein einem Flugzeug nachempfundenes Spielgerät aufgestellt, auf dem wir Kinder turnen und uns an einer abgehenden Rutsche amüsieren konnten. Erinnern kann ich mich an eine Begegnung mit einem Mädchen aus der amerikanischen Nachbarschaft. Die Kleine hatte schönes rotes, geflochtenes Haar und hieß Peggy. Mit Händen und Füßen und ein paar Brocken Englisch unterhielten wir uns mehr schlecht als recht. Peggy konnte nicht Deutsch, so kam es leider auch nicht zu einer befriedigenden Kommunikation. Aber wie Kinder nunmal unkompliziert gepolt sind, war dies kein Hinderungsgrund für das Girl mit uns mitzuspielen. (Eine Sensation wäre es, die in den USA vielleicht noch lebende Peggy heute wieder zu treffen.)
In den Zeiten der späten fünfziger Jahre spielten sich dort aber nicht nur schöne Szenen ab: Es gab eine Rivalität zwischen uns Burschen katholischem und evangelischem Glaubens, die so weit ging, dass wir 12 bis 13-Jährige uns gegenseitig mit Steine bewarfen und handfestem Gerangel versuchten, der stärkeren „Gruppe“ anzugehören. Einmal erwischte mich die „evangelische Gruppe“ und band mich mit einem Strick an einen Baum, der wohl dort noch wuchs wo sich heute die tiefer gelegte Umgehungsstraße befindet. Es war dies aber nur eine kurze Periode einer meist unblutigen Schlacht, die natürlich nicht mit den früheren Konflikten der IRA in Nordirland zu vergleichen war, wo es um den „richtigen“ (!) Glauben ging.
Zum Thema Religion fällt mir noch meine Firmung ein. Mir wurde die Ehre zuteil, von einem Brucker Geschäftsmann und Stadtrat bei jenem Heiligen Sakrament begleitet zu werden: Fridolin Brück gehörte damals, glaube ich, den Freien Wählern an. Er war auch der für Volksfeste zuständige Referent. Nach dem kirchlichen Akt nahm mich Brück in seine Wohnung mit, wo seine Frau Weißwürste mit Brezen auftischte. Von Zuhause gewohnt, die Weißwurst auszuzutzeln, hielten die selbst kinderlosen Brücks nichts. Sie zeigten mir die feine Schneidetechnk mit Messer und Gabel. Mit einem Besuch im Tierpark Hellabrunn verbrachte ich einen wunderschönen Tag mit meinem Firmpaten. Monate später, an einem Volksfesttag, stellte er mir einen Gstanzlsänger vor, der im Zelt seine Schnaderhüpferl zum Besten gab.
Alles in allem: So wenig wir damals besaßen, so minimal verspürten wir Einbußen irgendwelcher Art. Unsere Eltern feierten und tanzten oftmals mit Nachbarn in ihren mit Girlanden geschmückten Wohnungen zu Silvester und Fasching. Raum war demnach in der kleinsten Hütte, wie ein hierzu passender Spruch ja lautet. So reich und zufrieden fühlten wir uns in jener relativ guten und ruhigen Nachkriegszeit. Die Ära unserer Kind- und Jugendzeit endete alsbald: Die Zeitläufte des langsamen Erwachsenwerdens traten bald unweigerlich in Kraft, der „Ernst“ des Lebens begann…
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