Die „Eroberung“ der Villa Petersen durch die Amerikaner

Die Geschichte der „Eroberung der Villa Petersen“ hat etwas von einem Theaterstück mit Bühne und Schauspielern. Im Frühjahr 1945 waren alle Spieler, der Weltgeschichte gehorchend, auf dieser Bühne zusammen gekommen. Die Bevölkerung der Villa bestand aus verschiedenen Familien, die hauptsächlich aus nordischen Gegenden stammten und hier ein sichereres Auskommen suchten. Dazu kamen die Söhne der Familie Nolde, die Töchter des Professor Nübel und ihre Anhängsel wie auch die Familie Heinzelmann mit Sohn. Die bayerischen Spieler waren die Familien Baumiller und Nefzger mit ihren Kindern und Enkeln. Durch den Krieg gesellten sich noch Flüchtlinge aus München, Stuttgart, Schlesien und Polen dazu.

Das Erringen und Hamstern von Nahrungsmitteln stand im Mittelpunkt der täglichen Aktivitäten. Auch wurde das ländliche Leben oft von Fliegeralarm, tags oder nachts, und durch fernes Bombengetöse unterbrochen, war aber leider ein Bestandteil vieler Tage. An der Einfahrt zur Villa befand sich ein großes Eichentor. Es war Ende April 1945 als zwei olivfarbene Fahrzeuge einfuhren und frech auf dem schönen Rasen vor dem Nefzgerhaus parkten. (Dieser Rasen diente bislang hauptsächlich als Wäschebleiche.)

Aus dem Jeep stieg ein Militär im bis zum Kinn geschlossenen Trenchcoat, mit einem Helm auf dem Kopf und einer Pistole am Gewebegurt. Er sah Clark Gable verblüffend ähnlich. Der Fahrer des Jeeps war groß und dunkelhäutig und die Aufschrift am Jeep, „Indian Fighter“, ließ auf seine Herkunft schließen. Schnell betrat der Offizier die Wohnung des Professors, sah sich kurz um und befahl die sofortige Räumung der Villa innerhalb einer zweistündigen Frist.

Ich kann mich daran erinnern, dass darauf hin viel Bettzeug durch das hohe Treppenhaus flog. Weitere olivfarbene Fahrzeuge verschiedener Fabrikate kamen, darunter auch zwei italienische Lancia Werkstattwagen und alle trugen einen großen weißen Stern. Diese Kolonne parkte auf der unteren Wiese der Villa. Auch ein Dodge Lastwagen mit Plane fuhr in langsamen Tempo vor die Villa und landete im Graben. Unter lautem, für uns unverständlichem Geschrei, kroch der Beifahrer unter dem Fahrzeug hervor und griff nach dem Kragen des Fahrers. Torkelnd wurde dieser durch die große Haustür des Professors geführt und landete, nach einem heftigen Tritt in die Vogesen, hart gegen die Eichenvertäfelung des Foyers. Er sackte grinsend zusammen und hielt eine unversehrte Whiskeyflasche fest in seinen Armen. Das war der erste Auftritt des amerikanischen Kochs.

Auffallend und zugleich beruhigend war, dass nur wenige Waffen zu sehen waren. Der Offizier beispielsweise trug seine Pistole am Gewebeband, während ein anderer Soldat einen Revolver mit Perlmuttergriff an einem breiten schräg hängenden Western Ledergurt hatte. Der untere Teil der Revolvertasche war mit dünnen Lederstreifen am Bein befestigt. Am Abend erschienen voll bewaffnete Wachsoldaten mit Gewehr, Helm und weißen Gamaschen an den beiden Eingängen der Villa. Wir Kinder hatten durch die amerikanische Schokolade alle Furcht verloren und besuchten gerne in der Abenddämmerung den Wachposten hinter der Villa. Wir saßen am Becken-Rand vom Springbrunnen und „bewarfen“ den Soldat mit deftigen bayerischen Bezeichnungen die er grinsend nicht verstand. Er lächelte uns an während er sich ein Stück von einem bunt verpackten „Leckerbissen“ abschnitt und in den Mund schob. Das war verlockend. Er bot Hansi ein Stück an, der es freudig annahm und wir anderen warteten auf seine genussvolle Beschreibung, die aber ausblieb. Langsam änderte sich Hansi´s Gesichtsfarbe in hellgrün und plötzlich verschwand er mit einem komischen Geräusch im Gebüsch. Gepresster texanischer Kautabak ist eben eine Geschmackssache. Die weißen Gamaschen der Posten waren merkwürdig, hatten aber ihren Sinn, denn so lange der Offizier sah, dass sich die Gamaschen bewegten, war der Posten wach und der Offizier beruhigt.

Auch wenn die Belegung der Villa nur etwa eine Woche dauerte, war eine Annäherung spürbar. Beispielsweise baten die Amerikaner um extra Matratzen und Bettwäsche. Dieser Wunsch konnte schnell erfüllt werden, denn ein paar Tage vorher hatten wir in einem panisch verlassenen Feldlager einer deutschen Luftwaffeneinheit im Emmeringer Hölzl solche Dinge „gefunden“.

Professor Nübel sprach etwas Englisch und saß oft mit dem Offizier am Wohnzimmertisch im Gespräch. Auf diese Weise wurden kleine internationale Krisen bewältigt. Beispielsweise befanden sich in der Ausrüstung der Amerikaner keine frischen Eier. Das kam auf, als Tante Annchen sich tränenreich bei ihrem Bruder, dem Herrn Professor beklagte, dass der Hühnerstall ausgeraubt worden war. Das war Thema für ein Krisengespräch und der schuldige Soldat wurde ermittelt und dazu „verdonnert“ für die Eier zu bezahlen. Dies geschah dann mit zwei Händen voll erbeuteter deutscher Reichsmark. Manches verschwand aber auch aus dem amerkanischen Vorrat. Darunter eine große geschlossene Dose Kakao. Nachdem dies wurde von den Amerikanern bemerkt worden war, kam vom Krisentisch die Nachricht, dass jetzt nichts mehr von den Amerikanern zu erwarten wäre. Das war uns peinlich und wie durch ein Wunder tauchte der Kakao plötzlich wieder auf!

Der Kochkünste des amerikanischen Kochs waren auch wegen der Einschränkungen der Nahrungsmittel bei seinen Landsleuten nicht sehr beliebt. So stand eines Abends eine riesige rechteckige Pfanne mit Haschee auf Dosengrundlage, die wohl abgelehnt worden war, vor der Küchentür. Der aufmerksame Hansi schlug Alarm und wir füllten alle möglichen Behälter, sogar unsere Milchkannen mit dieser kalorienreichen Gabe. Das bedeutete für uns eine mehrtägige, leckere und willkommene Verpflegung.

Wir Kinder bekamen lange entbehrte Süßigkeiten und so mancher von uns gewöhnte sich an Kaugummi. Der „Indian Fighter“, er könnte ein Apache gewesen sein, hatte auf seinem Jeep einen großen Karton mit Bonbons, die er an uns verteilte. Eine der Tanten verbreitete zwar das Gerücht, dass die Bonbons von den Amerikanern vergiftet worden wären, aber das schien auf den Hansi keine abschreckende Wirkung zu haben und so nahmen auch wir welche von den Bonbontütchen. Bei näherer Betrachtung waren wir überrascht zu sehen, dass diese Süßigkeiten aus deutschen Wehrmachtsbeständen kamen und von den Amerikanern nur erbeutet worden waren.

Die tägliche Routine der Villa-Bewohner und der „Besatzer“ verlief parallel. Die Einen mußten mit dem täglichen Nahrungbedarf und der schwierigen Unterkunfts-Situation zu Recht kommen und die „Besatzung“ musste von ihrem Kommandeur ausgiebig beschäftigt werden. Das bestand zum Beispiel aus Waffenreinigung, Unterhalt der Fahrzeuge und Versteckspielen vor dem Chef. Es wurden auch ziemlich schwere Motoren aus- und wieder eingebaut. Einer dieser V-8 Motoren lag übrigens als Andenken noch viele Jahre im Park hinter der Villa.

Die Voraussage, dass die „Besetzung“ mehrere Wochen dauern würde, verwirklichte sich nicht. So, als ob das Interesse an ihrer neuen Eroberung plötzlich nachgelassen hätte, brachen unsere Besatzer eines Morgens auf und waren so schnell verschwunden wie sie gekommen waren. Uns blieb die neue dynamische Weltordnung und die normalen Sorgen ums Überleben. Die Zukunft mit ihren neuen Perspektiven entwickelte sich langsam, blieb aber für uns friedlich.






zurück zur Übersicht


» nach Oben

Stadt Fürstenfeldbruck
Hauptstr.31
82256 Fürstenfeldbruck

Stand: 04/25/2024
Quelle: