Der Girls-Club

Anfang Dezember 1947 zogen unser Vater, Lieutenant Colonel der US-amerikanischen Armeeluftwaffe, Leonard A. Weissinger, unsere Mutter Virginia, die Töchter Virginia (5 Jahre) und Sallie (3 Jahre) in den Luftwaffenstützpunkt Fürstenfeldbruck.

Um die massive ideologische Beeinflussung der Nazis zu überwinden, welche die deutschen Kinder in Hitlers Jugendprogramm erhalten hatten, startete die US-amerikanische Regierung überall, im von den Amerikanern besetzten Deutschland, 1945 eine Kampagne, um den Kinder (und indirekt ihren Familien) eine bodenständige Demokratie und ehrenamtliche Tätigkeit näherzubringen.

Das Programm hieß, „German Youth Activities (GYA)“, in dem deutsche Jungen in Fürstenfeldbruck, Sportarten wie Fußball, Baseball und Basketball lernten. Was Frau Weissinger in “Fursty”, aber verärgerte, war, dass es kein GYA Programm für Mädchen gab. “Warum machen wir nicht auch etwas für die Mädchen?!”, fragte sie den Kommandanten.

Innerhalb weniger Wochen war unsere Mutter die freiwillige Direktorin eines GYA Mädchenklubs geworden. Als Erstes veranlasste sie, dass ihr die US-amerikanische Armee ein Gebäude zur Verfügung stellte und mit Kohle versorgte, denn ihre Mädchen sollten es warm haben!

Ein Problem war, dass die Mädchen nicht in den Club kommen durften, denn einige Eltern wollten nicht, dass ihre Töchter Kontakt zu Amerikanern hatten. Eines der Mädchen, Erna, hat unsere Mama sogar gebeten, mit zu ihr nach Hause zu kommen, um ihre Mutter zu überzeugen. Da das Deutsch meiner Mutter war zu diesem Zeitpunkt noch sehr eingeschränkt war, konnten sie kaum mit einander sprechen, aber als Erna´s Mutter unsere Mutter sah, umarmten sie sich mit Tränen in den Augen und Erna wurde eines der Lieblingsmädchen unserer Mama.

Im Club gab es Essen und gesellschaftliche Aktivitäten und es war geheizt. Aber weil das US-amerikanische Militär nur ein kleines Budget zur Verfügung gestellt hatte, sammelte unsere Mama Geld und Sachspenden: Spielsachen, Geschirr, Töpfe und Pfannen. Stühle und sogar Tische mit einem abgebrochenen Bein, (das wieder repariert werden konnte), alte Schuhe und Bekleidung. Mama hat auch viele der Offiziersfrauen davon überzeugt, dass ihre Kleidung ein bisschen außer Mode war, und dass die Frauen in der Lage sein würden, viel modischere Kleidung zu finden, sobald sie zurück in den Vereinigten Staaten waren. Sie nahm alles, womit die Mädchen spielen, darauf sitzen oder mit dem sie essen konnten, denn Deutschland hatte durch die Kriegsjahre sehr gelitten.

Die amerikanischen Militär-Familien mussten noch nicht mal den Flugplatz verlassen, um die Dinge zu verschenken, denn Mama hatte idealerweise ein Zimmer unseres Hauses für den GYA Girls Club bereitgestellt. Die Leute konnten ihre Spenden an jedem Tag und zu jeder Tageszeit zu uns bringen. Die 6 jährige Virginia wurde dazu angehalten, Mama dabei zu helfen, alle diese Schätze zu organisieren und die Spenden zum Mädchenclub zu bringen.

Mama hat viele ihrer Freundinnen, Offiziersfrauen, dazu gebracht, von Montag bis Donnerstagnachmittag, die Mädchen des GYA im Singen, Tanzen, Schwimmen und in Englisch zu unterrichten. Es gab auch eine Diskussionsgruppe und Kochkurse. Die Mädchen lernten, zu backen, und Karamell-Bonbons und Popcorn herzustellen. Sie hatten Popcorn vorher nie gesehen, und waren zu Anfang irritiert, weil sie dachten, dass „Korn ein Ernährungsmittel für Schweine ist.”

Um ihren Mädchen die Gelegenheit zu geben, Dinge gewinnen zu können, hat Mama an den Freitagnachmittagen Bingo-Spiele organisiert, und wenn ein Mädchen gewonnen hat, konnte es sich einen Preis aussuchen. Eines “der Mädchen”, das Virginia und Sallie im Jahr 2011 wiedergetroffen haben, konnte sich noch daran erinnern, ein Stück Seife gewonnen zu haben. Eine Andere hatte sich mit 11-Jahren einen grauen Pullover ausgewählt, den sie bis in ihre frühen 20er Jahre getragen hat. Ein anderes Mädchen hatte sich ein Wollkleidungsstück ausgewählt, das sie in einen juckenden, klumpigen wollenen Badeanzug umgenäht hatte, über den sie noch gelacht hat, als wir mit ihr 2011 zu Abend gegessen haben. Und noch eine Andere hatte einen selten getragenen Wintermantel erhalten, von dem sie dachte, dass es das schönste Kleidungsstück war, das sie jemals gesehen hatte.

Nichts war Mama für die deutschen Mädchen zu gut! Sie wollte, dass sie alles bekamen, was sie in ihre Hände bekommen konnte! Und es waren nicht nur die Frauen der Offiziere, die sie für ihre Sache einspannte. US-amerikanische Militär- Piloten mussten jeden Monat eine bestimmte Anzahl von Flugstunden absolvieren und so flogen sie häufig nach Italien oder Afrika. In den Monaten, in denen der Mädchenclub Geldmittel übrig hatte, gab es Mama den befreundeten Piloten, die in den Süden flogen - und sie kamen mit einer Kiste voll Orangen für die Mädchen zurück. Als Mama einer Fünfjährigen zum ersten Mal eine Orange gab, versuchte diese, sie aufspringen zu lassen, weil sie dachte, dass es ein Ball war. Sie hatte noch nie vorher eine Orange gesehen.

1949 verließen wir Fürstenfeldbruck, weil unser Vater in die Vereinigten Staaten zurück beordert wurde.

Es gab eine Abschiedsfeier für Mama im Mädchenklub. Die Mädchen haben getanzt, Gedichte rezitiert, die sie geschrieben hatten, und einen Kuchen für Mama gebacken. Am Ende des Festes, überreichten sie ihr ein kleines Büchlein in hellblauem Leder, in dem alle Mädchen ihren Namen geschrieben hatten. Die Seiten des Büchleins waren mit Zeichnungen geschmückt, die eines der Mädchen mit Farbenstiften gemalt hatte - deutsche Berge, Seen, Flüsse, Rehe, Vögel und winzige weiße Blumen. Zeichnungen der Englisch-Klassen und Diskussionsgruppen. Vom Nähen und Schwimmen und Singen und Tanzen und anderen Clubtätigkeiten. Das war für unsere Mutter ihr wertvollster Besitz für den Rest ihres Lebens. Sie verwahrte es stets in ihrem Nachttisch.

Am nächsten Tag sollten wir den Zug von Fürstenfeldbruck nach Bremerhaven nehmen, von wo aus wir in die Vereinigten Staaten übersetzen sollten, und Mama umarmte die Mädchen weinend, weil sie dachte, sie würde sie nie wieder sehen.

Aber Mutter hat ihre Mädchen doch noch einmal gesehen. Denn am nächsten Tag durften die Mädchen die Schule früher verlassen, so dass sie uns am Bahnhof verabschieden konnten. Viele der Mädchen hatten von Hand gepflückte Blumen dabei, die sie Mama in die Hand drückten, bevor wir den Zug bestiegen.

Als unser Zug aus der Station fuhr, pressten wir Schwestern, jetzt 7 und 5 Jahre alt, unsere Gesichter gegen das Fenster und schlangen unsere Arme um Mamas Taille, weil wir wussten, wie sehr es sie schmerzte, ihre “anderen Mädchen” zurückzulassen. Einige der Mädchen warfen winzige Sträuße mit weißen Blumen zum Zugfenster, wo Mama, Klein Virginia und Sallie standen um Ihnen zum Abschied zuwinken.

Ein kleiner deutscher Junge hatte Steine und Blechdosen auf Sallie und mich geworfen, als wir 1946 in Esslingen ankamen, aber als wir 1949 Fursty verließen, warfen deutsche Kinder unserer Mutter Blumen zu.

Anmerkung der Redaktion: Der Girls Club war im ehemaligen Bürgerheim, einem Seniorenheim für wohlhabende Bürger, in der Adolf-Kolping-Straße untergebracht. Sallie Weissinger und Virginia Littlejohn, die Töchter von Virginia Weissinger, kamen im August 2011 nach Fürstenfeldbruck, um Frauen wiederzutreffen, die damals im Girls Club ihrer Mutter waren.

 






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82256 Fürstenfeldbruck

Stand: 04/26/2024
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